Nachruf auf Christian Bienert † 7.7.2020 – Moderator bei DeutschlandradioKultur

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© Susanne Dorendorff 18.7.2020

Keine halbe Stunde und wir sind einmal um die Welt. Um die Welt der Musik, die Welt der Erinnerungen, die Welt verborgener Gefühle. Jeder und jede für sich und ganz, ganz sanft. Mancher fliegt klammheimlich, manche in Familie.

Vorbei. Ende der Landebahn: „Um die Welt“ ist kein Ziel mehr. Wir befinden uns jetzt auf einer Einbahnstraße. Endgültig. Wenn ein Großer geht, fehlen die Worte. Ich versuch‘s trotzdem.

Ich flog, war Bienert am Radio, immer in Gedanken mit meinem Vater durch meine Kindheit. Von Berlin aus. Rein in den typischen RIAS-Zungenschlag, zu den Insulanern mit ihrer spitzzüngigen Verbal-Politik, und ab ging die Gefühlspost. Ich liebte diesen Sound, weil er von einem Leben in einer anderen Welt erzählte, von Berlin. Wir wohnten in Hamburg und meine Mutter versorgte mich mit Opern und Interpreten. Zum Glück. Denn das präparierte mich frühzeitig und machte mich Bienert-kompatibel. Ein Vorteil, den ich viele Jahre später sehr zu schätzen wusste, weil es mir das Mitfliegen erschloss. Mitfliegen und Mitraten.

Es war diese klitzeklitzekleine Sonntagsrätsel-Sendung, die nach mir griff, kaum dass ich zufällig hineingehört hatte, moderiert von einer Stimme, die mich in ihr Netz lotste, wie ein Aal sich nicht mehr aus der Reuse windet.

Das Raten war es anfangs gar nicht. Auch die Musikzusammenstellung schlug mich nicht sofort in ihren Bann. Da saß einer auf der anderen Seite, der mich berührte. Seltsam.

Nur mit seiner Stimme.

Sage und schreibe zwanzig Jahre wurden daraus, stapelweise handschriftliche Ratehefte, ein vollgekritzelter Opernführer und ich Teil des Bienert-Universums, einer unüberschaubar großen, weltweiten Hörerschaft.

Jeder ließ seine Gedanken in eine andere Richtung driften. Sie hatten ja freien Flug. Wir konnten Höhen und Tiefen antippen, durchkreuzen, durchpflügen oder die Gefühle einfach liegenlassen. Christian Bienert entfaltete sonntags für jeden der es mochte, einen wohltemperierten Klangteppich. Mit allem Drum und Dran. Für ein Wort aus sechs oder sieben kleinen Buchstaben.

Lächerlich?

Keineswegs.

Was machte die Bienert‘sche Größe eigentlich aus, was machte ihn zum zuverlässigen Zuhörer-Fischer?

Mit einem Wort: die Liebe.

Er liebte das Medium Radio, er liebte seine Aufgabe bis zum Missionieren, er liebte seine Hörerschaft und obendrein: er liebte zum Glück auch sich selbst (was nicht mit Selbstverliebtheit verwechselt werden darf).

Selbstliebe ist ein Talent, ist die Fähigkeit zur Selbstdisziplin, die jene Souveränität herausbildet, die sich als Ausdruck der Persönlichkeit in Stimme und Handschrift niederschlägt.

Daher also.

Sein klares Timbre war sein Kapital.

Die seltene Kombination aus Wissen, Wärme und Zielgerichtetheit verlieh ihm deutlich vernehmbar Glaubwürdigkeit. Diese Glaubwürdigkeit wiederum bildete das Fundament jener Brücke, dessen Architekt er war. Er war ein Meister der Integration von Ost und West. DDR-Kultur ist ein Schatz der zu uns gehört wie die Menschenwürde. Er lebte sie.

Ich bin nicht sicher, ob Christian Bienert sein vokales Charisma kannte. Ich glaube nicht. Darüber machte er sich keine Gedanken.

Auch nicht als er nach dem Tod des Unterhaltungsgiganten Hans Rosenthal, der ihm Mentor und Freund zugleich war, dessen Sonntagsrätsel-Nachfolge antrat. Er hatte Angst.
Aber eben auch die Liebe zur Sendung an seiner Seite.

Und so wurde daraus ein Format, das seine brillante Handschrift trug und das bis zu seinem Ausscheiden 2012, mit großer Herzlichkeit geführt und kolossal erfolgreich war.

Beim Flugzeug nennt man es Schubumkehr, wenn die Kraft, die das Fliegen ermöglicht, plötzlich bremst, um den Karren zum Stillstand zu bringen.

Dann dürfen alle Fluggäste, Flugbegleiter und Piloten aussteigen. Personalwechsel. Andere Route. Mit Bienerts Weggang kam es beim Sonntagsrätsel auch zur Schubumkehr. Klar klingt „Sonntagsrätsel“ anachronistisch. Warum auch nicht? Das „Hamburger Hafenkonzert“ ist längst kein Konzert mehr, älter als das Rosenthal’sche Rätsel und seine Hörer kein bisschen aus der Sendezeit gefallen.

Auch wenn es nur eine schöne Illusion war, so, wie man an Schutzheilige glaubt oder daran, dass Petrus das Wetter macht: Es gab ihn ja noch, sozusagen als Höhere Instanz. So lange Christian Bienert lebte, hatte ich Hoffnung, dass ich noch einmal mit meinem Vater „um die Welt“ fliegen, den RIAS-Sound, die Insulaner und Bienerts Moderatorenstimme hören oder dass die Sendung in seinem Sinne formatiert werden würde.

Die beiden Nachfolger sagen: „Jeder bringt seinen Musikgeschmack mit!“ Aber darum geht es bei dieser Sendung doch gar nicht. Bienert mochte die Musik, die er anbot manchmal selbst nicht. Aber das ließ er niemanden spüren. Er machte die Sendung für uns. Nicht für den Sender oder für sich. Das spürte man. Er gab uns das Gefühl, für den Sender wichtig zu sein.

So war er, das machte ihn aus. Darum ist sein Verlust für uns so schmerzhaft.

Ich bin unendlich froh, zwanzig Jahre meines Lebens sonntags am Radio gehockt, Bienert zugehört und mitgeraten zu haben, und dass ich mich in die Idee fallenlassen konnte, eine knappe halbe Stunde lang um die Welt getragen zu werden.

Danke.