Interview zum Welttag des Briefschreibens 1.9.2022 für Fa. Hach „Schreiben mit der Hand ist Denken auf Papier“
HACH: Liebe Frau Dorendorff! Vielen Dank, dass Sie für uns Zeit haben und uns in die Welt der Schrift und des Schreibens entführen wollen. Wann haben Sie Ihren letzten handgeschriebenen Brief verfasst? Welches Schreibgerät haben Sie verwendet?
Susanne Dorendorff: Es war ein 26-seitiger Brief an Doris Dörrie. Ihr Buch Leben.Schreiben.Atmen (zum Thema kreatives Schreiben) hat mich inspiriert, sie darauf aufmerksam zu machen, dass das Alphabet nicht (wie sie in Talkshows gern behauptet) lediglich aus 26 Buchstaben besteht. Ein paar mehr sind es schon: 59 (für Deutsch im Spanischen ist es etwas anders).
Ich habe mit Füller geschrieben. Meine Tinten mixe ich selbst. Die Tinten an Dörrie war Lindgrün. Die Farbe der Tinte wirkt – ebenso wie der Duktus der Handschrift – suggestiv auf die unbewusste Empfindung des Lesenden. Hat also große Bedeutung. Denken Sie an das fiese Rot der Lehrerinnen! Die steckt dem meisten Schülern bis ins Greisenalter in den Knochen.
HACH: Handgeschriebene Zeilen werden immer seltener.
Susanne Dorendorff: Das sehe ich anders. Vor dem Computer gab es die Schreibmaschine, die machte damals genauso einen Wirbel wie der Computer. Das Schreiben mit der Hand stirbt aus. Kein bisschen! Die hirnrissig und nahezu ununterbrochene Tipperei auf Handytasten, inkl. angebotenen Silben und Wörtern sind kein Maßstab für den Vergleich viel mehr (tippen) versus viel weniger (schreiben).
HACH: Mittlerweile gibt es sogar Spracherkennung Assistenzsysteme, die das gesprochene Wort in Schriftzeichen übertragen. Immer weniger Menschen schreiben deshalb mit den Tasten, geschweige denn mit der Hand. Wird die Handschrift in den nächsten Jahrzehnten zum immer selteneren Kulturgut?
Susanne Dorendorff: Eine neue Technik beunruhigt die Menschen seit Menschengedenken, wie jetzt die Digitalisierung. Doch keine Angst, sie befruchten sich gegenseitig:
Beides heißt Schreiben. Und das ist auch gut so. Denn beide gehen nebeneinander her wie zwei Beine. Wir laufen schließlich auch auf zwei Beinen ins Ziel, und humpeln nicht auf nur einem über die Linie.
Handschrift und Tippen sind wie Yin & Yang, wie Forschung und Lehre: Die eine ist die Struktur, der andere ist der Mensch. Sie brauchen sich. Gegenseitig. Sie sind einander ein gigantischer Gewinn. Jeder, der sie beherrscht, weiß das.
Die Basis beider Schreibtechniken ist das Denken. Schreiben mit der Hand ist Denken auf Papier. Schreiben auf der Tastatur ist Denken digital.
Darum ist und bleibt der Wille des schreibenden Menschen das Maß aller Gedanken. Sagen wir mal so: Du gehörst zu denen, die eine eigene Handschrift haben. In allem. Du lässt dich nicht täuschen, du lässt dir nicht reinreden. Du schreibst mit der Hand. Der Politik zum Trotz, die das Handschreiben seit fünfzig Jahren torpediert. Du schreibst weiter. Du bist autark. Du besitzt einen Schrank voller Notizbücher. Du gehörst zu den Scharfsinnigen, den Kreativen, den Zukunftsfähigen. Du bist der Mensch, der die Technik beherrscht und nutzt. Du erkennst in deiner Handschrift dich selbst, deine Gefühle, deine Leistung und deinen Erfolg.
Mit deiner Handschrift bist du dir nah. Jeden Tag.
HACH: Auch wenn es im Berufsleben immer digitaler wird, viele Karriereratgeber betonen die Wichtigkeit einer guten Handschrift. Kann die Handschrift wirklich etwas über die Persönlichkeitsstruktur, über Charisma und beruflichen Erfolg aussagen?
Susanne Dorendorff: Tatsächlich fürchten viele Menschen (jeden Bildungsstands) genau DAS: die Handschrift verrät meinen (schlechten) Charakter! Das ist Quatsch.
Handschriftliches kann Ausdruck der Persönlichkeit des Schreibenden sein. Aber der Duktus der Handschrift wird lediglich subjektiv, also angenehm oder unangenehm empfunden werden. Mehr nicht. Wissenschaftliches Erforschen ist hier wohl angebracht.
Handschrift entsteht durch spontane Bewegungen, die weder kalkulierbar, noch analysefähig sind. Es sind emotionale Reaktionen, die sich nicht voraussagen lassen, weil sie intuitiv ablaufen. Sie bilden also keine feststehende oder unveränderbare Größe. Das einzig Zuverlässige an der Charakterlichkeit des Menschen ist seine Unberechenbarkeit, seine Spontaneität, also seine unergründliche Wandelbarkeit.
Kein zuverlässiger Mensch ist immer zuverlässig, und kein Pionier ist durchgehend mutig. Gefühlsbetonte Handlungen kann man nicht als vorhanden und immerwährend bezeichnen oder sie sogar als zuverlässig eintreffende Impulse erwarten, denn sie sind so launenhaft wie die Stimmungen der Menschen selbst.
Ausdruck und Eindruck sind subjektive Empfindungen und keine Voraussetzung für belastbare Charakterstudien.
HACH: Beraten und trainieren Sie auch zum Thema Karriereplanung durch eine gute Handschrift?
Susanne Dorendorff: Eine charismatische Handschrift ist ein international anerkanntes Statussymbol.
HACH: Nach wie vor lernen deutsche Grundschüler das Schreiben erst mit dem Bleistift, dann mit dem Füllfederhalter. In anderen Ländern öffnet ein Kugelschreiber die Tür in die Welt der Handschrift. Ist das Schreibgerät wirklich so entscheidend, ob gerne und leserlich geschrieben wird?
Susanne Dorendorff: Kein Schreibgerät „öffnet kleinen Kindern die Welt der Handschrift“! Ausschlaggebend für die Freude am Schreiben ist allein, dass Stiftführung, Buchstaben und die Schreibbewegung erklärt werden … Die „Welt der Handschrift“ ist in Deutschland immer noch ein Rätsel. Kugelschreiber gehören nicht in Kinderhände. Für Anfänger ist der Bleistift gut geeignet, weil sie damit nach Herzenslust aufdrücken können, bis sie gelernt haben, dass die Buchstaben davon nicht besser werden. 😉
HACH: In Ihrer Kunst bringen Sie die Buchstaben zum Sprechen. Dabei haben Sie den Begriff visuelle Poetik geprägt. Schreiben transportiert dabei nicht nur reine Informationen, sondern auch Gefühle.
Susanne Dorendorff: Meine Schreibkunst ist dem japanischen Sho-do verwandt. Schreiben (am besten mit Pinsel) ist kunstfähig, weil die authentische Schreibbewegung die Ausdruckskraft des Menschen so stark transportieren kann, dass der Ausdruck seine eigene, künstlerische „Sprache“ entfaltet. Dann sagt man, dass das Geschriebene „spricht“. Diese Art zu Schreiben erfordert ein langes, ausdauernde Studium.
HACH: Gleichzeitig gibt es eine Revolution zum Thema Handlettering und Schönschrift.
Aber wo grenzt sich Handlettering von Schönschrift für Sie ab?
Susanne Dorendorff: Nicht nur für mich – für Alle: Schrift und Schreiben sind zweierlei.
Schrift (Typografie, Satzschrift, Kalligrafie) ist eine grafische Norm, ein Formenkanon (Ursprung ist die RÖMISCHE CAPITALIS [nur Großbuchstaben] – das lateinische Alphabet) auf den wir uns vor 2.000 Jahren (kulturell) geeinigt haben.
Schreiben mit der Hand ist ein psycho-physiologischer Vorgang, an dem mehr als alle Sinne beteiligt sind. Schreiben ist eine authentische, spontane, intuitive, höchst emotionale und flexible, vom Unterbewusstsein gesteuerte Bewegung, die variiert. Seine Buchstaben sind untereinander nicht identisch.
Handlettering und Kalligrafie (Buchstabenmalen und Schönschreiben) haben nichts, gar nichts – zumeist nicht einmal buchstäblich das geringste mit Handschrift gemein – was die 5 Haupteigenschaften der Handschrift ganz einfach belegen: Authentizität, Spontaneität, Intuition, Emotionalität und Asymmetrie (kurz: ASIEA) Handlettering und Kalligrafie verfügen über keine dieser Eigenschaften – im Gegenteil, beide Kategorien sind zwar buchstabenbasiert, werden jedoch konzipiert (vorgezeichnet) und transportieren grundsätzlich nicht die spontanen Gedanken des Zeichnenden, sondern Sprüche oder Zitate, sie dienen ausschließlich dekorativen Zwecken.
HACH: Liebe Frau Dorendorff! Wir bedanken uns sehr herzlich für Ihre Gedanken und wirklich interessanten Einwürfe zu diesem Thema Schreiben und Schrift. Für Ihr neues Projekt TIETUS wünschen wir Ihnen von Herzen sehr viel Erfolg!