Jungs lernen anders als Mädchen. Also unterrichtet sie auch so!
Jungen denken systemisch und möchten strukturierte Verhältnisse. Vor allem in der Schule. Sie stellen Fragen, die sie beantwortet haben möchten. Bleibt man ihnen die Antworten schuldig, verlieren sie die Lust am Lernen. Alle – auch Erwachsene – lernen durch Erkenntnisse. Alphabetisieren ist da keine Ausnahme. Wer das nicht befolgt und Schüler im Unterricht sich selbst überlässt, führt die ihm anvertrauten Kinder in die Irre. Was leider allzu oft geschieht.
Warum kann ich nicht schreiben?
Antwort: Du kannst schreiben. Dir wurde die Technik des Schreibens nur nicht richtig erklärt. In der Schule musstest du dir wahrscheinlich zuerst die Leseschrift (die auch Druck- oder Buchschrift genannt wird) selbst beibringen und dann musstest du allein eine Schrift einüben, die keine Schreibschrift ist. Schreiben hast du also nie gelernt. Deine Handschrift wartet noch auf dich.
Wie funktionieren Buchstaben?
Antwort: Wir denken in Begriffen, die aus Lauten zusammengesetzt sind. Das nennen wir sprechen und Sprache. Laute sind Sprachzeichen, die Buchstabe heißen. Buchstabenlaute werden beim Sprechen zu einem Begriff, einem Wort-„Bild“ zusammengezogen, wie zum Beispiel das Wort ich. Ich wird nicht „ih-zeh-ha“ gesprochen, sondern „ij“ – und das Wort wird geschrieben, wie man es denkt: in einem Zug … nicht abgehackt i-ce-ha. Und weil du mit der Hand so schnell schreiben willst, wie du denkst, muss es zwischen den Lauten eine Brücke geben, über die der Lautklang in den anderen hineingleiten kann. Du schreibst ich so, wie du ich denkst, als drei ineinanderfließende Laute.
Warum schreiben wir überhaupt?
Antwort: Weil wir unsere eigenen Gedanken festhalten möchten und um neue Gedanken folgen zu lassen … um uns zu erinnern … um eigene Gedanken anderen Menschen zeigen zu können.
Warum muss man Buchstaben verbinden?
Antwort: Damit die Wörter so fließen, wie die Gedanken fließen und wir den Gedanken so schnell wie möglich neue folgen lassen können. Die Verbindung zwischen den Buchstaben macht das Schreiben schnell. Schreiben ist denken in einer ununterbrochenen Linie. Auch dort, wo die Zeichen auf dem Papier nicht verbunden sind, fließt der Gedanke in der Bewegung des Stiftes weiter, so dass die Linie „unsichtbar“ weitergeschrieben wird. Die Verbindung ist der Zündschlüssel für Schnellschreiber.
Warum muss man auf einer Linie entlang schreiben?
Antwort: Auf einer geraden Straße fährt es sich leichter als auf einer kurvigen Berg-und-Tal-Bahn. Ebene Strecken sind die effizientesten (schnellsten) – darum musst du bei b, o, ö, r, v, w und x (die oben verbunden werden) aufpassen. Die Orientierung bleibt aber immer bei der Grundlinie.
Warum muss ich mit Füller schreiben?
Antwort: Musst du nicht. Mit Füller schreiben ist ein deutsches Phänomen. Tintenroller – ohne Griffmulden! – sind für Jungs genauso gut.
Dass viele Jungen unter dem absenten Schreib-Rechtschreibunterricht besonders zu leiden haben, ist kein Geheimnis. Jungs sind keine Mädchen (sic!). Sie lernen anders. Sie setzen sich nicht hin und üben schönschreiben. Das sagt ihnen nichts. Sie wollen wissen, warum sie etwas tun sollen und was sie davon haben. „Eine schöne Handschrift“ ist kein jungenhaft vielversprechendes Ziel. Wird ihnen hingegen das Schreiben richtig erklärt, kann jeder Junge sich (auch später noch) eine gute Schreibtechnik aneignen.
Die sagt, dass schlechte Handschriften auch bei Jungen keine Veranlagung sind und dass es die grafomotorische Störung beziehungsweise die Schreibschwäche nicht gäbe, brächte man den Kindern schreiben gleich richtig bei. Kinder lernen immer nur das, was ihnen angeboten wird. Die „Störungen“ und „Schwächen“ werden Kindern erst durch falsche Information antrainiert. Gehirne nehmen, was kommt, und verschalten. Nervenzellen im Gehirn können nicht wählen und schon gar nicht selbsttätig korrigierend eingreifen und verbessern, dazu fehlt ihnen die Voraussetzung. Sie stellen ausschließlich Verbindungen her und sorgen dafür, dass Informationen fließen. Das allein ist ihre Aufgabe. Stellen Sie sich vor, Neuronen und Synapsen funktionierten in etwa wie Stecker und Dosen, die zusammengefügt werden müssen, damit der Strom fließt. Ob mit dem Strom anschließend der Backofen, die Bohrmaschine oder eine Zahnbürste betrieben wird, steht nicht in der Macht von Stecker, Dose und Strom. Stellt sich später heraus, dass der Mensch sich mit der Bohrmaschine rasiert, den Kuchenteig mit der Zahnbürste rührt und die Backofenschnur dem Kühlschrank gehört, dann kann man daraus nicht einfach eine „motorische Stromstörung“ machen und hoffen, alles regelt sich von allein. Genauso ist es mit dem Schreibenlernen. Im Kopf verschalten sich Synapsen buchstäblich – in bestem Sinne des Wortes – nur nach Vorschrift. Eine verknüpfte Schreibbewegung, die sich im Ergebnis als falsch herausstellt, ist nicht die Schuld des Gehirns. Es ist der Fehler des Lehrers, der Lehrerin, der Eltern oder der Erzieher, es ist nicht die Schuld oder der Fehler des Kindes.
Das bedeutet, Schüler machen keine falschen Schreibbewegungen, sondern nur die, die sie gelernt haben (oder sich selbst beibringen mussten). Sie hatten vorher keine Störung, aber hinterher auch nicht und ganz gewiss handelt es sich um keine krankhafte Veranlagung. Erwachsene müssen bei Kindern das korrigieren, was ihnen selbst zuvor falsch beigebracht wurde. Deutlicher noch: Wer Schulanfängern Druckschrift malen als schreiben lernen verkauft und es kurz darauf wieder verbietet, um nun das richtige Schreiben zu lehren, der verursacht bei Kindern Schrei(b)krämpfe.
Für Jungen wäre schreiben lernen kein Problem, hielte man es beim Schreibunterricht wie beim Sportunterricht. Dort boxt nicht Frau gegen Mann – dort bleibt man unter sich. Weil Männlein und Weiblein naturgemäß unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, wird konsequent zwischen den Geschlechtern unterschieden: Jungen laufen schneller als Mädchen, können weiter springen und schwerere Gewichte stemmen, deshalb verläuft zwischen den Bewertungskriterien eine unsichtbare Mauer. Wieso nicht auch beim Schreiben? Wieso gilt die Durchschnittsgeschwindigkeit der Mädchen beim Erlernen des Schreibens als Standard für Jungen? Müsste dann folgerichtig nicht auch der nächste Marathonlauf nach diesen Kriterien bewertet werden – dieser und alle anderen Disziplinen, in denen Frauen aufgrund ihrer angeborenen „Leistungsschwäche“ gegen Männer chancenlos wären und permanent verlieren würden? Vielleicht wäre eine solche Vorführung mal ganz sinn- und wirkungsvoll. Denn dann würden die Frauen und Mädchen endlich nachfühlen können, wie frustriert und deprimiert viele Jungen durch die Schulzeit gehen. Jungen mit schlechter Schrift müssen in jedem Schulfach mit Punktabzug rechnen und ihre schulische Leistung wird deshalb oft nicht so bewertet, wie es ihrer intellektuellen Leistung entspricht.
Die Erkenntnis, dass Jungen physisch und psychisch anders beschaffen sind als Mädchen, ist so alt wie die Menschheit. – Wieso wird dieses Wissen beim Schreibenlernen außer Kraft gesetzt?
Dass so furchtbar viele Jungen zu Schreibverweigerern werden und Angst vorm Schreiben haben, ist also keine Frage kollektiver Minderbegabung, zurückgehender männlicher Intelligenz oder gestörter Sensomotorik. Es ist ganz einfach – und ich weiß, das hört sich nicht gut an –, aber es ist tatsächlich das Resultat fehlender Rücksichtnahme auf die Jungen.
Einer der Wissenschaftler, die unsere Theorie teilen, ist Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther
Ebenso wie André Stein es ist seinem Vortrag Leben und Lernen mit Begeisterung anregt.