Buch-Illustration Die Möwe Jonathan

 

Das Buch über das Fliegen in Freiheit von Richard Bach (Ullstein Verlag) ist mit 24 Illustrationen von Susanne Dorendorff im Oktober 1989 erschienen und war bis 2004 (mit neun Auflagen und 40.000 Expl.) im Handel. Seitdem ist es ein begehrtes Sammlerstück. Die Möwe Jonathan-Illustrationen ist ein frühes und in sich geschlossenes Werk.

Susanne Dorendorff schrieb 1989 auf, was sie mit der Möwe Jonathan erlebte.

Haben Sie schon mal eine Möwe im Flug eine Feder verlieren sehen? Ich nicht. Sie liegen immer schon da.

Ich bin auf der Suche :nach einer, ich brauche sie für Jonathan: Eine Feder für die Möwe. Und Nordseewasser. Unbedingt. Die Feder muß zum Schreiben geeignet sein, nicht solche, wie sie millionenfach an Stränden und in Häfen herum liegen, versalzen, verdreckt, zerschmettert, steinzermalmt und ölig. Absolut unbrauchbar. Es muß eine Feder sein, die zu ihm passt.

Natürlich könnte es zur Not auch eine Gänse- oder Entenfeder tun. Aber schnelle Kompromisse mache ich nicht: Authentizität auch im Kleinen. Also vertiefe ich mich, solange keine Federn in Sicht sind, in Jonathans Charakter, beziehungsweise in das, was der Autor der Möwe Jonathan, Richard Bach, mir möwenmäßig mitteilt. Ich soll für den Ullstein Verlag bis zum Herbst über zwanzig Illustrationen für die Geschenkausgabe des Kultbuches Die Möwe Jonathan fertig haben. Und deshalb schippere ich mitten im Horizont der norddeutschen Küste davon. Bald sind wir in England. Wir, das sind eine Hand voll Seebären und ein kleiner Frachter, der das ganze Jahr über an der Küste unterwegs ist und mich mitnimmt. Es ist Sommer. Ich will das Flugverhalten der Möwen studieren. Da sollte es auf See nicht zu kalt sein. Meist sitze ich auf dem „Sonnendeck“. Das ist die höchste Plattform an Bord, direkt am Schornstein, wo es mächtig bollert wenn die Maschine läuft. Was sie meistens tut. Hier kann ich mich am besten in das Gefühl hineinversetzen „mitten im Horizont“ zu sein. Ab und zu kommt eine Möwe vorbei, dreht den Kopf und schaut zu mir runter. Dann kreischt sie: „Was willst Du hier? Hau ab!“ Seevögel sind Raufbolde! Ich bin froh, daß sie nicht im Sturzflug auf mich niederfährt und mir zack mit ihren langen schmalen Flügelspitzen durch die Haare fährt. Möwen haben auch beindruckend große Schnäbel.

Doch dessen ungeachtet: Ich bin gern hier auf „hoher See“, mit furchtbar viel Wasser unter und noch viel mehr Himmel über mir. Und Jonathan schreit nach mir: „Was willst Du hier?“ Ich kann ihn hoch über mir seine flügelschlaglosen Serpentinen segeln sehen.

Wie gesagt, ich bin nicht ganz freiwillig hier, halb zog es mich, halb sank ich hin. Was mich zog war das Freiwillige an dieser Reise, ein Kindheitstraum, den ich, elbwassergetaufte, waschechte Hamburgerin, unbedingt verwirklichen wollte: Eine deftige Seereise mit allem Drumunddran. Das Nichtganzfreiwillige das mich lockte, ist der Jonathan-Auftrag. Ich kann nur illustrieren, was ich vorher verinnerlicht habe. Deshalb studiere ich jetzt den Möwen-Flug und den Bachschen Text, und dann versuche ich, gefühlsmäßig und illustratorisch alles unter einen Hut zu bringen. Ich bin hier also nicht zum Spaß. Obwohl, wenn es so richtig stürmt, und ich die Nacht nur heil überstehen kann, wenn ich auf der Brücke neben dem Steuermann festgezurrt bin, von wo aus ich den Silberstreif am Horizont taumelnd tanzen und verrücktspielen sehen kann, dann entziehe ich mich diesem Abenteuer nicht. Und das macht Spaß! Jonathan. Ist er  ein charismatischer Überflieger? Mutiger Individualist? Sinnbild des zielstrebigen Karrieristen? Führungspersönlichkeit mit Sensibilität und Gespür für verantwortungsvolles Handeln? Genussvoller Grenzüberschreiter? Ein Sichselbstüberwinder? Ein Sichselbst-überschätzer? Oder ein Fragender? Ein Pionier? Ist er schön? – hässlich? Sanft oder herrisch? Was sagt er?

Jonathan ist der Traum von Freiheit, der in uns allen lebt. Jeder hat etwas mit ihm gemein. Auch, wenn es nur Sehnsucht ist. Jonathan fliegt für jeden, der sich in ihm spiegeln kann.

Wie meine Jonathan-Feder aussehen soll, ist nicht so wichtig, sie muß nicht weiß sein. Aber sie sollte vielleicht an einem besonderen Platz gefunden werden. Nicht einfach nur vom Boden aufheben oder aus dem Wasser fischen. „Sie sollte irgendwie besonders sein“ denke ich und vergesse es gleich wieder. Ich muß die Texte auswählen, die sich zum Interpretieren eignen.

Du darfst nicht aufgeben – damit beginnt meine Arbeit. Insgesamt sollen es vierundzwanzig farbige und fünf schwarz-weiße Illustrationen werden. Ich mische meine Farben mit Nord-seewasser, mit Elbwasser, mit Wasser aus der Irischen See, Karibikwasser von den Inseln unter dem Wind und mit einem Schüsschen Mittelmeerwasser.

Ich schreibe mit einer weißen Möwenfeder und mit dem Federkiel eines echten Pelikans von der Insel St. Luca. Auch mit Pinseln aus Japan und ganz normalen Buntstiften wird Jonathan illustriert. Am Aufregendsten aber war das Schreiben mit Kerzenwachs: „Licht des Verstehens“, weil dabei der Pinsel in Flammen stand.

Ich hatte mir ein Teelicht hingestellt, dessen Wachs geschmol-zen war und eine kleine Flamme leuchtete. Ich tauchte den Pinsel ins Wachs und schrieb Li – doch das Wachs erstarrte zu schnell, so daß ich den Pinsel für das fehlende cht erneut eintauchen mußte. Im Eifer des Gefechts vergaß ich, dass das Wachs am Pinsel nicht nur schmilzt, wenn man es in die Flamme hält…

Von entscheidender Bedeutung ist es aber nicht, womit ich schreibe. Für meine Illustrationen gibt es keine Rezeptur. Die Handhabung der Geräte und die Farbgebung lassen sich nicht auf eine Gebrauchsanweisung reduzieren. Das einzige was zählt ist man selbst und das Vermögen, tiefen Empfindungen Gestalt geben zu können. Das kann photographisch, gemalt, getanzt oder gesungen sein und ist immer an den authentischen Impetus, an die Intuition gebunden. Allein die innere Kraft des Menschen bewirkt den Ausdruck eines Werkes, das als Kunst bezeichnet werden kann. Ein Werk, das nicht „spricht“ führt kein Eigenleben. Darin sind Kunstwerke Menschen sehr ähnlich.

Meine Arbeit ist am treffendsten mit dem Komponieren eines Musikstücks zu vergleichen. Noten sind ebenso abstrakte Zeichen wie Buchstaben und brauchen den Komponisten der sie zusammen bringt. Zu wirklichem Leben, zu Lebendigkeit und Schönheit erweckt sie jedoch erst der Klang, das Spiel des Musikers, seine Interpretation. Ich bin Komponist und Musiker zugleich. Ich bringe das Wort mit Pinsel und Farbe zu Papier und mein Gefühl bringt es zum Klingen.

Die bibliophile Ausgabe der Möwe Jonathan erschien im Oktober 1989, und blieb fünfzehn Jahre und neun Auflagen lang im Handel. Was ich, als ich mich damals auf dem Sonnendeck des kleinen Frachters durch den Horizont schaukeln ließ, nicht einmal zu ahnen wagte.

Es war übrigens der Kapitän des kleinen Frachters, der mir die Pelikanfeder aus der Karibik mitbrachte. Er machte Urlaub in einem kleinen Bungalow auf der Insel St. Luca und beobachtete eines nachts, wie ein sterbender Pelikan sich langsam hinschleppend, wie ein Schatten auf seine Hütte zu bewegte. Am nächsten Morgen lag der Vogel tot unter seinem Fenster. „Als wollte er noch etwas mitteilen“, dachte der Kapitän, brachte das leblose Tier mittags zurück zum Strand, wo er es im feinen, schneeweißen Karibiksand begrub. Bis auf zwei Federn. Zwei wunderschöne Flugfedern gab er mir. „Schreib damit“, sagte er „dann lebt er weiter.“

…und das tut er! Auf Seite 92 (hier oben rechts) Die Zeit ist nicht mehr fern, da ich […] auf deinem Strand erscheinen und die zeigen kann, was Fliegen in Freiheit bedeutet.

Nachtrag 2021.

Inzwischen lebt auch der Kapitän nicht mehr. Ob er jetzt an meinem Strand erscheint und mir zeigt, was Fliegen in Freiheit bedeutet? Ganz bestimmt.