Storytelling -1: Café to go – oder: Er versteht sie nicht.

Ich komm rein und rechts an der Fensterseite tobt ein Beziehungsdrama. Sie gegen ihn. Morgens um 8h! Geht’s noch? Außer uns ist nur noch der Barista da.
Sie ist nicht wirklich giftig. Mehr entschlossen. Warum sagt er nichts? Schuldbewusst? Fremdgegangen? Anderes Mädel angeschaut? Angefasst bestimmt nicht, das würde er bei dieser Frau nicht überleben. Da läge er schon längst mit einem Pappschild am großen Zeh im Gefrierfach. Garantiert.
Er legt seine rechte Hand auf ihr Knie. Das hilft aber nicht. Sie reagiert nicht. Sie ist in Rage. Er guckt zu. Ich könnte mir vorstellen, sie spricht Ausländisch und er versteht nur Bahnhof. Sie ginge gut als Italienerin durch. Lange, gewellte, schwarze Haare, sieht echt gut aus, Mitte dreißig und, wie leicht zu erkennen ist, sehr temperamentvoll. Eine orientalische Haremsdame ist das bestimmt nicht. Aber auch keine deutsche Grundschullehrerin.
Seine Hand liegt noch immer auf ihrem Knie.

Nach Handgreiflichkeit sieht es aber nicht aus. Sie schreit nicht. Sonst könnte ich sie javerstehen. Akustisch zumindest. Wie macht die das bloß? Lautlos jemanden anmöbeln. Die Salven, die sie durch ihre Schneidezähne zischt, muss man wohl auch gar nicht hören. Er beteiligt sich
bewegungsarm. Vielleicht ist er ja gehörlos und sie schäumt in Gebärdensprache. Müsste sie dann nicht mehr mit den Fingern fuchteln?
Hab ich noch nie gesehen, dass Taubstumme sich anschreien. Wäre ja auch irgendwie Quatsch. Bis das Wort Arschloch fertig buchstabiert ist,
ist doch keiner mehr wütend. Fragt da noch jemand: „Wie meinst du das?“ Echt nicht. Dabei fällt mir die Autofahrersprache ein und der Stinkefinger. Interessant! Tonlose Kurzzeitbeschimpfung für Nursehende? Wie lernen Taubstumme oder Taube oder Stumme eigentlich das
Alphabet? Wie lernen sie Schreiben, ich meine, wie erklärt man ihnen, wie Apfel mit der Hand geschrieben wird? Ich sage ja immer, die Handschrift ist naturgegeben wie die Stimme, also vorgeburtlich festgelegt. Genetisch-fließend-gut. Dabei fällt mir jetzt auf, dass zum Schreiben nicht nur die Finger, sondern auch noch die Ohren gehören. Mit Muscheln und mit Hammer und Amboss. Ordentlich was los da zu beiden Seiten des Kopfes. Von Ohrringen rede ich extra nicht. Nur von den Knorpeldingern links und rechts. Stimmt schon. Nur Stimme, Finger und Augen, ohne Gehör, das bringt nichts. Man muss wissen, wie sich die Buchstaben anhören, wenn man sie lernt. Sie selber geben ja keine Töne von sich. Also muss es jemand sagen, vor-sagen. Das ist wie bei den Noten. Die
klingen ja auch nicht selbsttätig. Also: Wie lernen Taubstumme lesen? Wie lernen sie Druckschrift lesen und wie lernen sie Schreibschrift, wie schreiben sie? Oder tippen sie nur? Ich meine, auf der Tastatur. Das muss ich googeln.
Dabei fällt mir ein, neulich saßen drei Personen und ein Hund an dem Tisch, wo sich jetzt das Pärchen an die Gurgel geht. Also, der Hund saß natürlich nicht mit am Tisch, der saß drunter und war an der Leine. Die drei, ein Mann und zwei Frauen, waren taubstumm. Der Hund nicht. Das ist jetzt kein Scherzgedanke, denn der Hund, das war jedenfalls mein Eindruck, der Hund nutzte es weidlich aus, dass die Drei ihn nicht hören konnten und kläffte wie bekloppt. Ich fand das spannend. Frage: Wie lange dauert es bis einer was sagt? Ich meine, einer der Gäste. Ist ja langsam Frühstückszeit und der Laden füllt sich. Kläff, kläff. Und was passiert dann mit dem Topfreiniger auf vier Beinen?

Die Fingerakrobatik der Nichtsprecher*innen ist faszinierend. Ist die eigentlich international? Wie viele Buchstaben gibt es in Fingersprache – auch nur 30 Großbuchstaben? Kleine brauchen sie janicht. Oder sind das Silbenzeichen wie im Japanischen oder Bilderwörter wie bei den Chinesen? Egal. Mit Fingerübungen brachten sie den Turbokläffer jedenfalls nicht zum Stillstand. Herrchen und Damchen (nebenbei: wieso heißt es immer nur Herrchen und Frauchen statt Männchen und Frauchen?), mrissen an der Leine oder schlugen nach Bello, wegen der ärgerlichen Blicke. Kläff, kläff, grrrr-grrrr! Kläff, kläff. Und nun? Hier macht sich das Sprichwort Wer nicht hören kann, muss fühlen! spürbar selbstständig, nämlich in: Wer nicht hören kann lässt fühlen.
So ist das, wenn man nicht hört oder nicht gehorcht. Wenn sie wiederkommen, frag ich sie wie das geht mit dem Schreiben lernen.

Zurück zu heute Morgen und der imposanten Bella am Fenster.
Inzwischen ist sie auf der Empörungs-Skala von 1 bis 10, locker über 10 am Anschlag. Er versteht immer noch nicht worum es geht. Am liebsten würde ich hingehen und ihn kurz mal schütteln:
„Karlheinz, sie will nicht mehr! Begreif das endlich! Du kannst gee-hänn.“

Die kocht zu Hause bestimmt scharf!
Schade, dass ich von diese südländisch-feministische Selbstbehauptung keine Foto auf Youtube posten dar… u. Auf mein iPhone würde er bestimmt sofort reagieren. Gute Idee Ach, schade. Sie stehen auf … und gehen langsam raus.

Gemeinsam!

Die Kaffeebecher waren „to go“ und fliegen in die Tonne.

Sie steigen in dasselbe Auto.

Noch.