Liebeserklärung an die Handschrift
Sie ist echt.
Es ist ihr egal, ob ich sie mit Kuli, Bleistift, Filzstift oder Füller schreibe, sie zeigt sich immer mit Gefühl.
Ich kann ihr nicht das Geringste vormachen, sie lässt sich nicht täuschen Sie ist sensibel und aufrichtig.
Ich bin ihr ausgeliefert und beherrsche sie zugleich. Sie ist nichts ohne mich, und ich nichts ohne sie. Sie wird mich nie verlassen. Sie weiß genau, wer sie ist. Sie verfolgt mich und ist bei mir wie ein Schatten. Manchmal ist sie grässlich hässlich. Gelegentlich schwingt sie sich auf und tanzt wie ein Schmetterling. Sie ist irrational. Emotional. Individuell und so wunderbar, wie jede andere Handschrift auch.
Die Leute sagen, sie sei »Ausdruck meiner Persönlichkeit«. Ich sage, sie ist hundert Mal mehr als das. Sie sagt mir, wie ich mich fühle. Sie antwortet mir, wenn Menschen nichts mehr sagen können. Sie trauert mit mir. Sie ist stärker als ich selbst. »Ausdruck der Persönlichkeit« ist nichts dagegen. Was ist das überhaupt, »Persönlichkeit«? Die Wissenschaft weiß es noch nicht, ist ihr aber auf der Spur.
Persönlichkeit ist eine Phrase, eine schillernde Worthülse. Aber Ausdruck hat sie – und wo Ausdruck ist, da ist auch Eindruck. Den macht sie.
Ob man will oder nicht, jede Handschrift macht Eindruck. Meine ist da keine Ausnahme. Jeder Mensch hat seine eigene Lebensschrift. Aber nur selten sieht man, dass sie auf Gegenliebe trifft. Noch seltener wird sie überhaupt gemocht. Meist führt sie ein Schattendasein und wird verachtet. Tja, und so fühlt sie sich dann auch. Wie kann eine Handschrift strahlen und schön sein, wenn sie ständig missachtet, niedergemacht und schlechtgeredet wird? Sie kann es nicht. Kein Mensch kann das. Aber einer Handschrift wird das zugemutet. Ihr bleibt oft nichts als ein Dasein in Isolationshaft. Manche Handschrift versinkt im Keyboard des Computers, ohne jemals gelebt zu haben. Weil ihr Lebensgefährte ihr niemals Leben eingehaucht hat.
Vielleicht weiß er nichts von ihr. Nichts von ihrer Schönheit, ihrem Charisma, ihrer Strahlkraft, ihrer grafischen Brillanz. Und er ahnt nicht einmal, was alles aus ihr hätte werden können. Hätte er sie doch nur einmal gelassen – losgelassen, einfach so drauf los. Doch er weiß nichts über sie und nichts von ihr, weil ihm vom ersten eigenen Buchstaben an suggeriert wurde, seine Schrift sei schlecht, sei ungleichmäßig und eigenwillig und tanze auf der Linie statt ordentlich zu sein. »Das wird nie was!«, und daran glaubt er. Hätte er gewusst, dass seine Schrift sich nicht schönschriftmäßig entwickeln darf, weil sie dann ihre Einzigartigkeit verliert, dann hätte er heute ein anderes Verhältnis zu ihr. Bestimmt würde er sie mögen. Sehr sogar.