Die Handschrift stirbt mit dem letzten Menschen. Vorher ganz bestimmt nicht.

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Podcast „Schreibgeflüster“ mit Claudia Sprinz

„Unterschreiben Sie!“ Meine Gedanken zur Unterschrift.

Kein Führerschein, keine Hochzeit, kein Friedensvertrag, ob im Scheinwerferlicht, vor aller Welt oder im stillen Kämmerlein, Unterschriften schreiben seit jeher Geschichte. Was mit Daumenabdruck und drei Kreuzen begann, hat das goldene Buch der Zeit längst besiegelt. Die Schrift unter Verträgen und auf Autogrammkarten ist das entscheidende Merkmal unserer Zivilisation.

Sie sind das Gelbe im Ei des Kolumbus. Die USA gehörten immer noch zu England, gäbe es nicht das Signum der Verträge und hätten diese nicht das Alphabet beherrscht. Auch Verlierer müssen unterschreiben. Wir sind von Namen umgeben, dass es nur so wimmelt. Weil wir in Kategorien denken. Ohne sie sind wir hilflos. Wir brauchen sie für die Schubladen unserer kategorischen Denkfließbänder. Jede Tätigkeit, alles Tun und Denken, jedes Lebewesen, jede Pflanze, jeder Gegenstand hat einen Namen. Aber nur der Mensch kann ihn schreiben! Und zwar so, dass keiner dem anderen gleicht. Selbst wenn es dieselben sind. Jeder Mensch schreibt mit seinem Namen seine individuelle Geschichte.

Die Unterschrift ist die reduzierte Reduktion einer Person! Manche hau’n sie nur so hin. Manche gefallen sich im Schreiben, weil sie fühlen, dass sie für einen kurzen Moment Aufmerksamkeit und Zeit schreibend in ihren Bann ziehen. Wer spüren kann, wie die Tinte just in diesem Augenblick das Leben festschreibt, der weiß was Schreiben ist. Ist die Tinte getrocknet, wird das Papier weggelegt, das Buch geschlossen und in den Schrank gestellt. Doch das Leben, dieser Augenblick im Leben jener Menschen, deren Handschrift zurückbleibt, kann als Signum individueller, unwiederbringlicher Existenz Jahrhunderte überdauern. Wer möchte als kringelige Schlangenlinie oder mit der Charakteristika eines Sägeblatts zickzackig und unlesbar in die Annalen eingehen? Dann doch wohl lieber raumgreifend und souverän? Die Unterschrift ist das Mark gebildeter Menschen. Wer denkt daran, wenn die Unterschrift dran ist? Wer denkt daran, wenn der Führerschein plötzlich unterschriftsreif ist? Wenn der eigenhändige Name auf der Cashcard stehen muss. Aber ist das wirklich plötzlich? Ist es nicht. Wir denken unlogisch. Die Unterschrift nimmt nämlich Gestalt an, sobald der erste Stift zwischen Kinderfinger wandert, „Hänschen klein“ zu kritzeln beginnt und die Lust am Schreiben erwacht. Es ist von jeher die Hauptaufgabe der Grundschulen, Kindern vom ersten Schultag an die Gewissheit einzupflanzen, dass Schreiben können aus ihnen starke Persönlichkeiten macht. Erst wer richtig und fließend schreiben kann, ist „staatstragend“ im Sinne eines mündigen Bürgers.

Aber das Schreiben-L e h r e n wurde 1969 aus unerforschten Gründen aus dem Deutschlehrplan gestrichen. Seitdem haben 73 % der Männer Probleme mit ihrer Handschrift. Tendenz zunehmend.

Zum Einstieg … Schreibenlernen ist ein Kinderspiel

Auszug aus meinem Buch „Handschrift ante portas“:

Ich konnte schon schreiben, als ich in die Schule kam. Deshalb weiß ich, wie einfach es ist, die lateinische Schreibschrift zu erlernen. Die Politik sieht das auch so: „Das Beibringen von Buchstaben ist wissenschaftlicher Erforschung nicht bedürftig.“ und „Das mit den Buchstaben soll ganz woanders erledigt werden, nicht in der Lehrerausbildung[1].“ Was hier ironisch klingt, fand tatsächlich statt. Der Schreibunterricht wurde aus der Grundbildung genommen, und die Ergebnisse fallen uns seitdem vor die Füße.

Seit Erwachsenen in ihrer Kindheit der geistige Schöpfungsakt des Schreibens verweigert wird, türmt sich Jahr um Jahr der babelsche „Kannitverstan[2]“-Turm immer höher auf: Eine Studie von 2012[3] ergab, dass der Anteil der Analphabeten im Bildungsstandort Deutschland auf 7,5 Mio. angewachsen ist (Berufstätige! – Kinder und Jugendliche nicht mitgezählt) – Tendenz: steigend.

Schreiben ist das Ergebnis eines Denkprozesses, dem ein visuell-manuell-basiertes Darstellungsereignis nachgeordnet ist. Und: Handschrift ist eine Frage der Bildung, nicht des Designs.

So wie es aussieht, brauchte es den langjährigen Verweigerungsprozess und den Verlust des Unterrichts, um die essentielle Bedeutung des Schreibens in seiner ganzen Größe erfassen zu können. Wir erinnern: Die drei Disziplinen Lesen, Schreiben, Rechnen sind das Fundament westlicher Bildung, wobei Schreiben als primus inter pares (Erster unter Gleichen) gilt. Wer lesen kann, kann noch nicht schreiben, wer nicht schreiben kann, kann auch nicht rechnen (weil er die Zahlen nicht „bedienen“ kann). Doch kann man schreiben, beherrscht man alle drei. Es geht beim Schreibenlernen also nicht um „schön“ oder „Sauklaue“, sondern um den Erwerb einer Denktechnik, auf die wir angewiesen sind.

Seit 30 Jahren ist meine Handschrift mein Beruf (wie die Stimme der Beruf eines Opernsängers ist), darüber hinaus berate ich seit gut zehn Jahren Jungen und Männer in Sachen Handschrift. Ich erlebe die Freude meines eigenen Schreibens und die Dimension des Schreibkummers anderer Menschen wie sonst wohl kaum jemand täglich hautnah. Das gab den Anstoß, genau jenes Kinderspiel“ zu entwickeln, das in Deutschland fehlt: Know-how und Spielregeln zum Schreibenlernen inklusive Erklärpflicht. Es ist nämlich der richtigen Erklärung zu verdanken, dass ich mit fünf Jahren schreiben konnte. Kein Kind kann sich selbst alphabetisieren. Woher soll es wissen, wie die Zeichen, die es sieht, ausgesprochen und geschrieben werden?

Es war eine wunderbare Selbst-Herausforderung, ein Handschrift-lern-Konzept zu entwickeln, das auf der Logik des Schreibens basiert und von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen angenommen wird. Das war das Ziel. Hier sollten sich mein langjähriges, intensives Typographie-Studium und meine sechs Kalligrafie-Semester bewähren. Ich hatte gelernt, Buchstaben zu „sezieren“, ich kenne ihren Aufbau. Aber ich weiß eben auch, dass das Schreiben der Handschrift weder mit dem einen noch mit dem anderen identisch sein kann, sondern ganz eigenen Kategorie angehört. Darauf kam es nun an. Das Konzept wurde den aktuellen Erkenntnissen der Neurobiologie mit dem Fokus auf Jungen entwickelt, weil sie die Haupt-leidtragenden der Nachkriegs-Schulpolitik sind.

Wir können uns freuen: Jeder Hype, auch der der Digitalisierung verursacht immer eine Gegenbewegung[4], dem zufolge macht sich der Schreib-Aufschwung auch längst schon überall bemerkbar.

Ein deutliches Zeichen für die Unverzichtbarkeit der Handschrift ist auch ihr gezielter Einsatz als grafisch-künstlerisches Element überall in unserer Lebenswelt, zum Beispiel in der Werbung seit über dreißig Jahren. Denn was suggeriert Persönlichkeit, Authentizität und Individualität besser als Handgeschriebenes?

Handschrift ist auf dem Weg, wieder zu einem Statussymbol, zu einer Bildungs-Code-Schrift zu werden: Das Management will Schreibschrift, die Schrift der Dichter und Denker.

Das bestätigen auch meine Handschrift-Coachings. Es sind die Männer, denen in der Kindheit das Schreibenlernen verweigert wurde. Darunter Studierende, Akademiker und Führungskräfte. Da ist es wohl verständlich und ermutigend, dass diese Väter auch auf die Handschriften ihrer Kinder achten.

Wer schreiben kann, hat die Macht. Geben Sie sie nicht aus der Hand!

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[1] Günther Thomé: ABC und andere Irrtümer, S. 99, Bosch (1937) zit. n. Kluge 2009, S. 27

[2] Johann Peter Hebel: https://epub.uni-regensburg.de/25677/1/ubr12863_ocr.pdf

[3] Grotlüschen und Riekmann, 2011, 2012; Grotlüschen, Riekmann und Buddeberg, 2012

[4] Matthias Horx, www.zukunftsinstitut.de

  1. Kapitel aus „Handschrift ante portas“ Susanne Dorendorff, BoD http://www.bod.de/buchshop/handschrift-ante-portas-schreiben-macht-gluecklich-susanne-dorendorff-9783752801965